Schlangenfraß

Das sind nur schöne Lügen. In Wahrheit haben mich die Götter weder mit Blindheit geschlagen noch zum Seher gemacht, sie haben mir nur die Fähigkeit zu schweigen genommen.

Blind bin ich geboren und wusste schon als kleines Kind bei jedem Menschen sofort, was ich von ihm und er vom Schicksal zu erwarten hatte. Schweigen konnte ich dabei wie kein zweiter, darüber und überhaupt. Du konntest mich bitten, freundlich fragen, reizen, ärgern, bis aufs Blut schlagen, mein Mund blieb versiegelt.

Jetzt kann ich nicht mehr aufhören zu reden. Das ist, was ich von den Göttern habe.

Noch eine Lüge: Die Verwandlung in eine Frau war nicht Apollons Werk. Das war ganz einfach meine Mutter – aber davon später – und die Rückverwandlung habe ich selbst geschafft  – wobei "geschafft" ein zu großes Wort ist. Wo ein Wille, dort ein Weg, du könntest es auch, obwohl du nichts Besseres bist als ein Mensch.

Nimm’s nicht persönlich, die Menschen habe ich immer schon verachtet – als ich einer war, erst recht. Der Haushund, der war anständig, aber seinetwegen bleibt man ja nicht daheim. Mit sechzehn habe ich die Sandalen geschnürt und den Hof endgültig verlassen. Gegangen war ich davor schon oft, aber immer wiedergekommen, nachdem mich Vater, der nichts anderes konnte als toben, zu den Frauen hatte stecken wollen, "Du bist aufsässig und nichtsnutzig wie ein Weib, bis du lernst mir Respekt zu erweisen, wirst du im Weibertrakt wohnen, da gehörst du hin, ich habe keinen Sohn mehr!", blablabla, er dachte tatsächlich, sein Wort sei bindend für mich. Mich, der ich einen Kopf größer war als er und selbst grün und blau geprügelt ohne Anlauf über den Zaun springen konnte. Ich.

Wenn man das Haus verlässt, kann man bei uns nur im Kreis laufen und kommt vor Abend wieder dort an, wo man am Morgen aufgebrochen ist. Ich hatte gelernt, so langsam zu gehen, dass ich drei Tage für die Runde brauchte, dann sechs, dann zwölf, zum Schluss vierundzwanzig. Auf meiner Insel habe ich jeden Stein benannt. Grüß dich Gerundeter, guten Abend Raukopf, wie geht’s dem Moosbelag, wie wird das Wetter? Zeig doch mal. Sie reden niemals über Politik, Geschichte, oder die Zukunft. Eine Wohltat.

Auf dem Marktplatz ging ich natürlich schneller. Teiresias, flüsterten sie mit einem Zittern in der Stimme, das zeigte, dass mein Ruf etabliert war. Dabei war ich immer nur zufällig da, wenn sie schlugen und schlachteten, und sah nichts, hörte nur zu. Am Tritt, am Geruch, am Rascheln der Kleider konnte ich sie freilich erkennen, aber welche Gerichtsversammlung schenkt einem blinden Zeugen Gehör? Und außerdem, warum reden? Nein, von mir hatten sie nichts zu befürchten. Umso mehr genoss ich, wie sie zitterten.

Mir etwas anzutun, hätten sie sich nie getraut; aber Mutter. Davon muss ich gleich reden. Nur darüber wollte ich sprechen, als ich angefangen habe, das hier war nur die Vorspeise, gleich kommt das Hauptgericht. Schlangenfraß, gestatte das Wort, denn wie heißt es doch: Friss Vogel. Und ich wollte halt nicht.

Als ich zum letzten Mal das Haus verließ – Vater war tot, aber nichts hielt mich dort –, muss sie mir gefolgt sein. Ich habe es nicht bemerkt. Seltsam, wenn man darüber nachdenkt. Ich höre das Gras wachsen, aber ihre Schritte habe ich nicht gehört. Man könnte sagen, dass ein Gott mir die Ohren zuhielt. Man könnte auch sagen, dass ich blind und taub voranschritt, einem Schicksal entgegen, von dem ich heute gern sagen würde, dass es von fremder Hand geschmiedet war. War es aber nicht, ich weiß es und wünschte, es nicht zu wissen, deshalb rede ich dauernd so viel. Ich bin einer geworden, der dick aufträgt, um zuzudecken, was war, und um aufzuschichten, was deshalb nicht gewesen ist, weil ich es nicht getan habe. Ob es Reue ist, schlechtes Gewissen, Selbsttäuschung? Jedenfalls sind es leere Worte.

Wie wären sie nicht nötig geworden? Wäre ich nach Vaters Tod der Bitte meiner kleinen Schwester nachgekommen, als Herr im Haus zu bleiben, was hätte ich dann für ein Leben gehabt? Grundbesitzer, Versammlungsleiter, Familienvater. Ich hätte Bäume gepflanzt, Kinder gezeugt und ein Haus gebaut. Ich hätte eine Frau gehabt, die Ziegen gemolken und Grütze gekocht hätte. Ich hätte die Wolken sorgenvoll betrachtet, wenn es zu viel geregnet hätte, und das Dach geflickt. Gut, nein, das nicht, ohne Augenlicht. Aber ich hätte dem Wind den Regen abgelauscht und für die Dachreparatur Sklaven gehabt. Ich hätte meine Söhne anders erzogen als mein Vater mich.

Aber das alles wollte ich einfach nicht. Ich wollte schweigen und wandern, das Haus verlassen ohne mich umzusehen und schnellen Schrittes über den Marktplatz laufen, auf dem das Zittern der kleinen Leute meinem Selbstwertgefühl Flügel verlieh, hinaus in die Ferne, bis zur Steinküste und dann ins Wasser vielleicht, vielleicht auch einfach nur weg.

Sie hat mich eingeholt und zur Rede gestellt, gegen mich für etwas gekämpft, das mir bis heute nichts sagt. Sie wollte etwas von mir, und ich wusste nicht, was es war, aber ganz genau, dass ich es nicht geben wollte. Ihren Zorn und ihre Kraft habe ich unterschätzt. Ich dachte halt, was will die kleine Frau von mir.

Dass meine jüngste Schwester uns leise gefolgt war und in der Nähe herumschlich, viel zu klein, um allein zurechtzukommen, das wusste ich wohl, während ich mit unserer Mutter stritt, aber wozu helfen? So klein Schwesterchen auch war, so war sie doch auch eine Frau, noch so eine, die nicht zu Vernunft und Einsicht zu bringen ist.

Sie war aus gutem Haus, meine Mutter. Viel jünger als Vater, wie es sich damals gehörte, und vielleicht deshalb unklug, wobei: Als sie mir folgte, war sie schon fast eine alte Frau, Großmutter meiner von Jahr zu Jahr wachsenden Nichten- und Neffenhorde. Klug war sie nicht, geschickt noch weniger. Dumm geboren, sagte Vater. Aber wenn sie wieder mal Wein verschüttet hatte, rief er, Männer! Das Opfer hat mein Weib schon dargebracht, lasst uns trinken! Wenn sie krank war, streifte er durch das Haus und schrie alle an, die ihm über den Weg liefen, ob es denn so schwer sei, die Böden sauber zu halten, ordentlich zu heizen und seinem Mann eine Grütze zu kochen, dass man sich deswegen tagelang im Bett erholen müsse.

Er brauchte sie am Ende mehr als sie ihn. Jedenfalls ging es ihr nicht schlecht, nachdem er gestorben war. Ich würde nicht so weit gehen zu behaupten, dass sie erleichtert war, aber sie führte Haus und Hof mit fester Hand und klarer Stimme, saß aufrecht, ging schneller und hatte keine zwei linken Hände mehr. Im Gegenteil: als ich einige Tage nach Vaters Begräbnis heimkam, sprachen mich die Schwestern sogar an, um zu erzählen, dass sie im strömenden Regen aufs Dach gestiegen war und es geflickt hatte, als wäre es nichts.

Aber darüber wollte ich nicht sprechen, sondern über das Ende des letzten Tages, an dem ich mit ihr sprach. Ich wollte erzählen, was geschah, nachdem ich sie geschlagen hatte und wir zum letzten Mal gestritten hatten.

Ich weiß noch, dass ich aufstand und mich entfernte, während sie am Boden liegen blieb. Ich dachte schon nicht mehr an sie, sondern an die kleine Schwester, die uns gefolgt und nun nicht mehr zu hören war. Sie wird heimgelaufen sein, dachte ich, da heult sie jetzt den anderen die Ohren voll. Sie werden ihr klarmachen müssen, dass es keine gute Idee war, mir nachzulaufen.

Dann plötzlich, aus dem nichts, tauchte im Straßenstaub vor mir ein zischendes, wie ein Sturzbach übereinander fließendes, tausendköpfiges Schlangengekräusel auf.

Es war Mutter, ich wusste es sofort, holte kurz Luft und schlug wild mit dem Wanderstab auf die Biester ein. Das war ein Fehler. Sie wanden sich um das Holz, fauchten mich aus unzähligen Mäulern an, verbissen sich in meine Tunika, fesselten mir die Beine, schlangen sich um Bauch, Rumpf und Hals, schnürten mir die Kehle zu. Jetzt bekam ich Angst. "Bitte!", krächzte ich, so laut ich konnte, "Ich verstehe nicht, was Du willst!" Ich weiß nicht mehr, was ich noch sagte, aber was es auch immer war, es war umsonst. "Zuhören zuhören", flüsterte es mir ins Ohr, "das hättest du wohl gern! Aber genug jetzt! Singen werden wir, Schätzchen, in der Wüste und deine Seele in Schutt und Asche legen. Ob du willst oder nicht: du wirst reden, und was du sagst, das wird die Wahrheit sein."

Dann fühlte ich die Verwandlung und die Schlangen fielen alle zugleich von mir ab. Ich stürzte davon. Meine Hilfeschreie würde niemand hören, das wusste ich. Die Zunge kroch mir aus dem Mund und zischelte, während sie sich entfernte, so, mein Schatz, jetzt ist weitersagen weitergeben weitersagen weitergeben weitersagen weitergeben weitersagen weitergeben weitersagen weitergeben weitersagen weitergeben weitersagen weitergeben…

Zurückverwandelt habe ich mich an einem Sommermorgen, im Bett eines Herrschers, der so dumm gewesen war, meinem Charme zu erliegen. Er wollte schreien, aber ich hatte ihn schon am Hals gepackt, mich auf ihn gesetzt und so fest zugedrückt, dass er nur noch mit den Beinen zappeln und mit kraftlosen Händen meine Arme umklammern konnte. Umgebracht habe ich ihn natürlich nicht, ich bin keine Mörderin. Ich habe ihm nur fest in die weit aufgerissenen Augen gesehen und ruhig gesagt: Die Wahrheit. Willst Du sie hören, oder Dich weiter widersetzen und sterben?

Er hörte auf zu zucken, ließ mich los und versuchte zu nicken. Da habe ich ihm alles gesagt, was er nicht wissen wollte. Dann stand ich auf und ging, ohne mich umzusehen. Seitdem rede ich.

 


Schlangenfrass