Die ganze Wahrheit

Nach der Schlacht schlafe ich wie ein Stein, aber vor der Schlacht plagen mich jedes mal die Träume.

Da liegt Kalchas nackt auf seiner Pritsche und sieht das Zeltdach an, als könne er darauf etwas lesen. Eine Sklavin massiert ihm die Füße. Als sie mich sieht, verkriecht sie sich schnell in eine Ecke. Ich setze mich auf einen Schemel bei der Pritsche. Der Seher murmelt: "Wenn du mich befragen willst, kommst du zur Unzeit, Odysseus. Ich kann in der Nacht auch nicht besser sehen als du."

Das haben Seher an sich, sie halten jeden für dumm. Ich sage nur: "Ich will dich nicht bitten, in die Zukunft zu schauen. Ich träume schlecht. Ich will, dass du mir etwas gibst, damit es aufhört."

Kalchas schließt die Augen: "Träume kann man nicht bannen", sagt er müde. Dann liegt er reglos.

Ich ziehe das Schwert und setze ihm die Spitze an die Brust. In der Ecke raschelt's. "Wenn du Alarm schlägst", sage ich ohne mich umzusehen, "stirbst du". Sie winselt nur und verschwindet. Kalchas zuckt einmal, zweimal, dann liegt er stocksteif. "Schau mich an", flüstere ich. Der Seher öffnet die Augen, sie sind jetzt weiß und blind. Ich drücke die Schwertspitze ein wenig stärker ins Fleisch. Kein Blut. "Du musst jetzt die ganze Wahrheit erfahren. Ich bin gekommen, um sie dir zu verkünden."

Ich trete einen Schritt zurück: "Halt den Mund. Ich will nicht." Da verschwindet das Zelt, das Bett, und ich stehe unter der Mauer von Troia, vor mir der verfluchte Teiresias, der einzige Mensch auf Erden, den ich von unten ansehen muss.

Ich ziehe mit der Linken das Messer, das Schwert habe ich schon auf ihn gerichtet. "Du kannst mich nicht zwingen, dir zuzuhören. Du kommst ungerufen."

"Bist du denn so blind vor Angst?"

Der Seher verschwindet. Ich atme auf. Die trojanischen Wachen haben nichts gemerkt. Ich schleiche zurück ins Lager und setze mich am Strand hin, im Schatten der Schiffe. Was soll ich wieder ins Zelt, hier kann man sich auch ausruhen. Aber eine jugendliche Stimme fragt, "Kannst du auch nicht schlafen?". Patroklos geistert wieder herum, auch die Jugend wird bettflüchtig in diesem Krieg. Ich seufze. "Junge, ich habe zweimal hintereinander denselben Fehler gemacht. Ich lasse nach." Er setzt sich zu mir. "Ja, Mann, hier blickt keiner mehr durch. Und ich hab gestern einen Troer von der Klinge springen lassen, einfach so, stell' dir vor. Ich hatte einfach keinen Bock mehr. Man hat mir gesagt, dass ich sterben werde. Achilles auch, nach mir. Aber du wirst nicht vor Troia sterben, göttergleicher Odysseus." Ich will ihm ins Wort fallen, aber es geht nicht. "Ein bisschen beneide ich dich doch", spricht er weiter, "du wirst heimkehren. Aber die Heimreise wird lang sein und beschwerlich." Er nimmt mit drei Fingern eine Prise Sand und lässt ihn langsam rieseln. "Und dann das andere, alles… Ich kann noch mehr sagen, willst du noch mehr wissen?"

Nein. Das will ich nicht.

Aber ich muss auch nicht, ich bin allein, das Lager füllt sich mit geschäftigem Lärm, die Männer legen ihre Waffen an.

Ich hebe das Schwert auf, jemand ruft meinen Namen. Das ist jetzt wirklich Patroklos: "Mein Junge! Guten Morgen!", rufe ich ihm zu, "Sei heute nicht wieder so weichherzig, willst du denn nicht nach Hause?" Aber er sucht mit den Augen, sieht stirnrunzelnd durch mich hindurch, als wäre niemand da. Dann zuckt er mit den Schultern und geht weiter.

Ich stehe auf. Dass man vor einer Schlacht immer so beschissen träumen muss. Nach der Schlacht, niemals, aber vor der Schlacht jedes verfickte Mal.

Der Tag geht rasch vorbei. Als die Sonne untergeht, stehe ich wieder am Strand, wie immer, und starre die Wellen an, blinzle, schüttle den Kopf. Nichts hilft, meine Augen fühlen sich furchtbar an.

Das war's. Ich sehe mich am Strand einer Insel stehen, den Bogen spannen und ins Schwarze treffen.



"Das", sagt Teiresias, "ist die ganze Wahrheit.

Gefesselt am Steuer deines Wagens überquerst du jede Nacht dieselbe Brücke.

Du gleitest zwischen zwei Laternenreihen, deine Krieger baumeln daran, sie locken

mach die Augen zu, Feldherr,

nimm die Hände vom Lenkrad.

Und du beschwörst sie,

schneidet den Strick,

ihr atmet noch,

zerstört die verfluchte Stadt,

wer oder was hindert euch daran?

Los! Jetzt überqueren wir den Styx,

jetzt schließen wir die Reihen,

wir singen unser Lied und die Sirenen verrecken,

zwei Finger in den Ohren, und die Berge

zerstieben zu Sand, und das Meer

erstarrt auf ewig zu weinrotem Eis.

Wir singen: Frères, débarquons maintenant

e celebriamo la terraferma!

Und wir bedecken den Strand mit Speisen,

we light the fires, e mesciamo vino.

et quand nous sommes tous assis ensemble,

dann siehst du wohl endlich,

qui, où, quand, comment et pourquoi,

sciogli le vele, allora, torna

nel profondo, e guardaci volare

sulle ali dei remi

nel deserto

e con la forza di tutte le tue voci

chante,

dissolto,

onde

dans le sable

che spariranno senza lasciare tracce

and be forsaken, denn wir werden leben,

wir werden siegen

und alles zerstören."



Was dann ist, weißt du schon.